das Altenpflegemagazin im Internet
www.altenpflegemagazin.de
Start Log-in Service Registrierung AGB+Datenschutz Suche / Stichwortindex Quiz Mobil Impressum

 

Version 2.13h - 2013

Standard "Verhalten bei sexuellen Übergriffen auf Pflegekräfte durch Patienten"

 
Demonstrativ ausgelegte Herrenmagazine, anzügliche Witze, betatschte Hinterteile. Fast jede zweite Pflegekraft fühlt sich gelegentlich von Patienten oder deren Angehörigen sexuell belästigt. Leitungskräfte sollten handeln und klare Grenzen ziehen.
 
 

Wichtige Hinweise:

  • Zweck unseres Musters ist es nicht, unverändert in das QM-Handbuch kopiert zu werden. Dieser Pflegestandard muss in einem Qualitätszirkel diskutiert und an die Gegebenheiten vor Ort anpasst werden.
  • Unverzichtbar ist immer auch eine inhaltliche Beteiligung der jeweiligen Haus- und Fachärzte, da einzelne Maßnahmen vom Arzt angeordnet werden müssen. Außerdem sind etwa einige Maßnahmen bei bestimmten Krankheitsbildern kontraindiziert.


Dieses Dokument ist auch als Word-Dokument (doc-Format) verfügbar. Klicken Sie hier!

  • Dieser Standard thematisiert nicht die freie Entfaltung der Sexualität eines Senioren. Der Inhalt dieses Standards ist insofern brisant, als dass elementare Rechte der Patienten und der Pflegekräfte gegeneinander abgewogen werden. Daher ist es sinnvoll, bei der Umsetzung möglichst viele Mitarbeiter einzubeziehen. Es muss entschieden werden, ob ein solcher Standard notwendig ist und mit welcher Konsequenz er umzusetzen ist. In der Mehrzahl der Pflegedienste wird ein solcher Standard entbehrlich sein oder kann zumindest inhaltlich abgeschwächt werden.
 

Standard "Verhalten bei sexuellen Übergriffen auf Pflegekräfte durch Patienten"
Definition:
  • Sexuelle Belästigungen von Pflegekräften durch Klienten zählen zu den "Tabuthemen", da häufig keine der beteiligten Seiten ein Interesse daran hat, diese Vorgänge öffentlich zu machen. Die Pflegekraft fürchtet berufliche Probleme, wenn sie sich gegen dieses Verhalten zur Wehr setzt. Der Arbeitgeber will keinen Kunden verlieren und den Ruf des Pflegedienstes schützen. Der Klient und dessen Angehörige sind erst recht nicht an einer Aufarbeitung interessiert.
  • Mögliche Täter sind nicht allein die Klienten, sondern oftmals auch deren Angehörige. Dieser Standard gilt daher auch für diese Übergriffe.
(Ein Beispiel: Im Juni 2012 wurde eine 22-jährige Ostallgäuerin zum Opfer einer versuchten Vergewaltigung. Sie wurde während der Arbeit vom Sohn einer Klientin festgehalten und mit einem Messer bedroht. Sie konnte sich jedoch losreißen und die Polizei alarmieren.)
  • Ein sexueller Übergriff beginnt nicht erst bei Handgreiflichkeiten. Wir werten auch gezielte verbale Belästigungen als sexuelles Fehlverhalten.
  • Pflegeschüler und Praktikanten sind häufig das Ziel von sexuellen Übergriffen, da sie über weniger berufliche Erfahrung verfügen und sehr jung sind.
Grundsätze:
  • Wir sind als Arbeitgeber verpflichtet, unsere Mitarbeiter vor sexuellen Übergriffen zu schützen. Diese Aufgabe hat für uns höchste Priorität, die auch durch wirtschaftliche Interessen nicht eingeschränkt werden darf.
  • Jede Pflegekraft hat das Recht, sich notfalls auch mit Gewalt gegen sexuelle Übergriffe zu wehren. Sofern es keine andere Option gab, eine Attacke abzuwehren, hat sie weder strafrechtliche noch arbeitsrechtliche Konsequenzen zu fürchten.
  • Wir verstehen jeden Klienten grundsätzlich auch als sexuelles Wesen. Jeder Klient hat das Recht, seine Sexualität auszuleben. Dieses Recht endet, wenn Pflegekräfte in sexuelle Handlungen einbezogen werden.
  • Auch männliche Pflegekräfte können das Ziel sexueller Übergriffe werden; sei es durch weibliche oder durch homosexuelle männliche Klienten. Daher gelten die in diesem Standard definierten Vorgehensweisen für männliche wie für weibliche Pflegekräfte gleichermaßen.
  • Da es keine objektiven Maßstäbe für sexuelle Übergriffe gibt, bleibt "das Gefühl" das zentrale Kriterium. Wenn eine Pflegekraft davon ausgeht, das Ziel eines bewussten sexuellen Übergriffs gewesen zu sein, dann ist diese Einschätzung für uns "wahr" und bei der weiteren Entscheidungsfindung maßgeblich. Dieses unabhängig davon, ob Zeugen den Vorfall beobachtet haben.
Ziele:
  • Der Klient sieht ein, dass sein Verhalten unangemessen ist. Er ändert dieses.
  • Die Pflegekraft kann ihre Arbeit leisten, ohne sexuelle Übergriffe fürchten zu müssen.
  • Jede Pflegekraft soll sich sicher sein, den vollen Rückhalt aller Kollegen und Vorgesetzten zu haben.
Vorbereitung: Organisation
  • Das richtige Verhalten bei sexuellen Übergriffen ist Teil der Einarbeitung neuer Mitarbeiter. Insbesondere junge Auszubildende sowie Praktikanten werden sorgfältig eingewiesen.
  • Das richtige Verhalten in derartigen Situationen wird ggf. in Form von Rollenspielen trainiert. Dazu zählt etwa auch die Aufforderung an den Klienten, die Intimpflege selbständig durchzuführen. Ggf. holen wir uns Unterstützung durch einen auswärtigen Experten.
  • In unserem Pflegedienst gibt es spezielle "Männertouren", deren Klienten ausschließlich durch männliches Personal betreut werden.
  • Wir geben unseren Pflegekräften Rückendeckung. Wir verdeutlichen jedem Mitarbeiter, dass wir sexuelle Übergriffe nicht dulden und ggf. die Pflege von auffälligen Klienten einstellen.
  • Jede Pflegekraft ist verpflichtet, sexuelle Übergriffe eines Klienten auf eine andere Pflegekraft zu melden. Dieses auch dann, wenn die betroffene Pflegekraft die Situation als minder gravierend einschätzt.
  • Wir regen Pflegekräfte dazu an, den eigenen Kleidungsstil ggf. kritisch zu hinterfragen. Ggf. könnten sich einzelne Klienten durch freizügige Outfits animiert fühlen. Kritisch sind auch T-Shirts mit missverständlichen Slogans oder Motiven. Dagegen abzuwägen ist das Recht der Pflegekraft auf Ausdruck der eigenen Persönlichkeit.
  • Wir ermuntern Pflegekräfte, einen Selbstverteidigungskurs zu besuchen. Dieses insbesondere, da unsere Mitarbeiter ggf. auch spät am Abend oder in der Nacht einen Einsatz durchführen und sich dann auf dem Parkplatz oder auf dem Weg zum Klienten bedroht fühlen könnten.
  • Uns ist bewusst, dass viele Pflegekräfte auch bei der Arbeit Pfefferspray und ähnliche Mittel bei sich führen; wenn auch primär zur Abwehr von aggressiven Hunden. Wir ermuntern Pflegekräfte dazu nicht, unterbinden dieses aber auch nicht, solange der gesetzliche Rahmen eingehalten wird.
mentale Vorbereitung
Jede Pflegekraft sollte sich im Vorfeld mit diesem Thema beschäftigen, um später in der akuten Situation richtig zu reagieren. Folgende Fragen sollte sie für sich selbst beantworten:
  • Ist der Pflegekraft das Thema so peinlich, dass sie darauf verzichten würde, entsprechende Vorkommnisse zu melden? Etwa auch, weil die eigenen Kollegen Schuldzuweisungen machen könnten?
  • Glaubt die Pflegekraft, dass derartiges Verhalten durch einen schlechten Gesundheitszustand entschuldbar ist? Ist Mitleid mit dem Klienten ein relevantes Kriterium bei der Reaktion auf solche Vorkommnisse?
  • Gibt es eigene negative Lebenserfahrungen, die bei einem solchen Vorfall reaktiviert werden könnten, also "wieder hochkommen" würden?
Durchführung: Abwägung
  • Bei minder schweren Verhaltensweisen wägen wir ab, ob diese das Ergebnis des biografisch verankerten Frauenbildes sind. Wir sehen daher ggf. über ein Hinterherpfeifen ebenso hinweg wie über herumliegende Zeitschriften mit erotischem Inhalt.
  • Verschiedene Handlungen akzeptieren wir in keinem Fall, darunter anzügliche Bemerkungen über die Figur der Pflegekraft oder deren Privatleben. Nicht toleriert werden auch gezielt dargestellte pornografische Fotos, Briefe an die Pflegekraft mit sexuellen Anspielungen, kneifen in den Po, klapsen auf den Po, aufgedrängte Küsse oder Aufforderungen zu sexuellen Handlungen.
  • Differenzierter muss die Abwägung bei demenziell erkrankten Senioren erfolgen, da diese zumeist nicht in der Lage sind, ihr Verhalten zu kontrollieren. Aber auch in solchen Fällen werden insbesondere Tätlichkeiten in keinem Fall toleriert.
Fallbesprechung
  • Wir ermuntern unsere Pflegekräfte, sich untereinander über das Problem auszutauschen. Viele Senioren haben eine "harte" aber "herzliche" Umgangsart. Hier ist ein rauer Kommunikationsstil Teil des biografischen Bezugsrahmens und somit nicht mehr korrigierbar. Die Bezugspflegekraft informiert alle Mitarbeiter über diesen Umstand.
  • Das sexuelle Verhalten eines Klienten wird bei einer Fallbesprechung nicht ausgeklammert. Es ist wichtig, dass etwaige Übergriffe im Kollegenkreis thematisiert werden.
  • Im Team wird ein einheitliches Verhalten im Umgang mit dem Klienten besprochen. Es muss eine Grenze definiert werden, deren Überschreitung dem Klienten deutlich signalisiert wird.
Maßnahmen nach einem sexuellen Übergriff durch einen nicht oder nur leicht demenziell erkrankten Senioren
  • Als erster Schritt nach vereinzelten verbalen Anzüglichkeiten ist es häufig sinnvoll, dem Klienten eine ablenkende Frage zu stellen, um seinen "Fokus" auf ein anderes Thema zu richten. Alternativ kann die Pflegekraft auch einfach so tun, als hätte sie nichts gehört. Nur bei wenigen Klienten ist es sinnvoll, das Verhalten mit einem Scherz zu überspielen. In vielen Fällen fühlt sich der Klient in seinem Handeln bestärkt und führt dieses fort.
  • Sollte sich die Belästigung wiederholen, teilt die Pflegekraft dem Klienten unmissverständlich mit, dass sie dessen Verhalten nicht toleriert. Die Pflegekraft sollte dabei Blickkontakt zum Klienten suchen. Sie bleibt dabei sachlich und freundlich. Sexuelle Anspielungen werden eindeutig zurückgewiesen. Die Pflegekraft lässt sich auf keine Diskussionen ein. Der Vorfall wird der Pflegedienstleitung mitgeteilt.
  • Pflegeschülerinnen und Praktikantinnen werden besonders konsequent geschützt, da diese häufig zu "schüchtern" sind, um sich zu wehren. Es ist Aufgabe der anwesenden Pflegekraft, jeden Übergriff bereits frühzeitig zu stoppen.
  • Falls es zu weiteren Übergriffen kommt, sucht die Pflegedienstleitung den Kontakt zum Klienten und verdeutlicht diesem, dass wir in letzter Konsequenz die Pflege ablehnen werden. Der Klient erhält diesen Hinweis auch schriftlich. Ggf. wird dem Klienten eine neue Bezugspflegekraft zugeordnet. Ideal ist oftmals die Zuweisung einer gleichgeschlechtlichen Pflegekraft.
  • Auch der Betreuer bzw. der gesetzliche Vertreter werden informiert.
  • Wenn sich das Verhalten des Klienten auch nach dem Wechsel der Pflegeperson nicht ändert, wird der Pflegevertrag ggf. gekündigt. Wir stellen die Pflege ein.
  • Vorkommnisse mit strafrechtlicher Bedeutung bringen wir konsequent zur Anzeige. Dieses insbesondere, wenn der Klient oder seine Angehörigen gewaltsames Verhalten zeigten.
Maßnahmen nach einem sexuellen Übergriff durch einen fortgeschritten demenziell erkrankten Senioren
  • Wir prüfen, ob wir mittels Realitäts-Orientierungs-Training (ROT) oder Validation eine Änderung des Verhaltens erzielen können.
  • Bei Übergriffen unter Anwendung von Gewalt prüfen wir, ob eine Versorgung durch männliches Pflegepersonal möglich ist. Alternativ sollten weibliche Pflegekräfte den Klienten grundsätzlich zu zweit aufsuchen.
  • Ist dieses nicht möglich, empfehlen wir die Versorgung in einer stationären Einrichtung.
Vergewaltigungsversuch
  • Die Pflegekraft nutzt greifbare Gegenstände in ihrem Umfeld, um sich zu verteidigen, also etwa einen Schlüsselbund oder eine gefüllte Handtasche.
  • Die Pflegekraft wehrt sich schnell, heftig und ohne Hemmungen, dem anderen weh zu tun.
  • Die Pflegekraft schreit den Täter an.
  • Bei erster Gelegenheit versucht sie zu flüchten und informiert die Polizei.
Nachbereitung:
  • Alle Vorkommnisse und unsere Reaktionen darauf werden sorgfältig, zeitnah und vollständig dokumentiert.
  • Wir bieten Pflegekräften Supervision an, damit sie belastende Situationen verarbeiten können.
Dokumente:
  • Pflegebericht
  • Pflegeplanung
Verantwortlichkeit / Qualifikation:
  •  alle Mitarbeiter
 
 
 
 
Weitere Informationen zu diesem Thema
Schlüsselwörter für diese Seite Sexualität; Notfall; Gewalt; Demenz
Genereller Hinweis zur Nutzung des Magazins: Zweck unserer Muster und Textvorlagen ist es nicht, unverändert in das QM-Handbuch kopiert zu werden. Alle Muster müssen in einem Qualitätszirkel diskutiert und an die Gegebenheiten vor Ort anpasst werden. Unverzichtbar ist häufig auch eine inhaltliche Beteiligung der jeweiligen Haus- und Fachärzte, da einzelne Maßnahmen vom Arzt angeordnet werden müssen. Außerdem sind etwa einige Maßnahmen bei bestimmten Krankheitsbildern kontraindiziert.