Theoretisch kann alles
so einfach sein: Die Pflegeanamnese erfasst die Vorgeschichte des
Pflegebedürftigen. Alle pflegerelevanten Informationen sollten in
diesem "Ist-Zustand" erfasst werden. Also auch persönliche
Pflegegewohnheiten, Bedürfnisse, Wünsche sowie Abneigungen. Zudem
werden aktuelle Ressourcen, Fähigkeiten sowie bestehende Probleme und
Defizite aufgelistet. Die Anamnese dient als Grundlage für die
Erstellung der ersten Pflegeplanung.
Bleibt eine entscheidende Frage: Was tun wir danach mit der Anamnese?
Regelmäßig aktualisieren? Bei Bedarf gar komplett neu verfassen? Oder
unverändert zu den Akten legen? Im MDK-Prüfkatalog und in der
Grundsatzstellungnahme zum Pflegeprozess und zur Dokumentation steht
dazu nichts. Und so löst der Medizinische Dienst das Problem auf die
bewährte Weise … nämlich gar nicht. Dem jeweiligen Prüfer wird
stattdessen ein großer Ermessensspielraum eingeräumt. In der Praxis
empfinden Pflegeteams diesen jedoch als blanke Willkür. Problematisch
wird die Situation insbesondere, wenn jedes Jahr ein anderer
MDK-Mitarbeiter kommt. Was im Vorjahr noch richtig war, kann heute
schon falsch sein. Und in zwölf Monaten kommt schon wieder der nächste
Prüfer.
Einzelfälle? Wohl kaum! Bei unserer Hotline melden sich in den letzten
Monaten immer mehr Pflegedienstleitungen und Qualitätsbeauftragte,
die vom Zickzack-Kurs des MDK genervt sind. Was also tun? Ein
gutes Mittel gegen diese Gutsherrenart ist normalerweise ein Blick
in die Literatur. Wer dem Prüfer ein Fachbuch vorlegt, das die eigene
Position unterstützt, hat in der Diskussion zumeist gute Karten. Das
Problem: Bei der Anamnese ist die Fachwelt heillos zerstritten.
Namhafte Pflegewissenschaftler und Buchautoren vertreten in ihren
Veröffentlichungen völlig gegensätzliche Ansichten.
Lehrmeinung
Nummer eins: Die Anamnese hält lediglich die Vorgeschichte zu Beginn
der Versorgung fest und darf später nicht mehr geändert werden. Die
Anamnese beschreibt also den "Ist-Zustand" des Bewohners oder des
Klienten bei Aufnahme der Pflege. Jede Überarbeitung würde das Dokument
verfälschen. Die aktuelle Entwicklung wird stattdessen im Pflegebericht
und in der Pflegeplanung abgebildet. Es liegt an der Bezugspflegekraft,
diese Dokumente an neue Pflegeprobleme und Ressourcen anzupassen.
Zwangsläufig gibt es im Laufe der Monate immer mehr inhaltliche
Unterschiede zwischen der Anamnese und der Pflegeplanung.
Lehrmeinung Nummer zwei: Die Anamnese wird
auch nach der erstmaligen Erstellung permanent ergänzt. Neue
Informationen werden mit einem weiteren Handzeichen und Datum in der
Anamnese festgehalten. Bei gravierenden Gesundheitsveränderungen
erfolgt sogar eine komplette Neuerstellung der Anamnese. Die
Bezugspflegekraft ist dafür verantwortlich, dass die Pflegeplanung und
die Pflegeanamnese inhaltlich miteinander korrespondieren.
Die Folge ist eine große Verunsicherung unter Pflegedienstleitungen und
Bezugspflegekräften. Ein paar Beispiele aus unserer täglichen
Beratungspraxis.
Bei einer MDK-Kontrolle eines Pflegeheimes in Hamburg
kritisiert ein Prüfer die offensichtlichen Widersprüche zwischen der
Pflegeanamnese und der Pflegeplanung eines Bewohners. Dieser war drei
Monate zuvor in einem verwahrlosten Zustand aufgenommen worden. Die
Bezugspflegekraft erstellte in den ersten Tagen nach dem Heimeinzug die
Anamnese und fasste darin die zentralen Pflegeprobleme zusammen.
Darunter auch folgende: Die Haare und die Haut sind ungepflegt.
Aufgrund der Mangelernährung weist der alte Mensch einen BMI von 16
auf. Der Prüfer des Medizinischen Dienstes stellt beim Abgleich mit der
Pflegeplanung fest, dass all diese Probleme in der aktuellen
Pflegeplanung unerwähnt bleiben.
Was war passiert? In den Wochen nach dem Heimeinzug konnte der Bewohner
dazu motiviert werden, sich regelmäßig zu waschen und zu duschen. Der
Heimfriseur hat ihm zudem die Haare geschnitten. Auch das Untergewicht
ist überwunden. Der Pflegebedürftige hat sich sehr schnell an die
Heimkost gewöhnt und normalisierte seinen BMI binnen zweier Monate auf
einen Wert von 19. Die Bezugspflegekraft aktualisierte die
Pflegeplanung regelmäßig und entfernte einige der nun gelösten
Pflegeprobleme.
Ein weiteres Beispiel:
Um
jeder Kritik aus dem Wege zu gehen, hat ein Wohn- und Pflegeheim in
Niedersachsen die Bezugspflegekräfte dazu verpflichtet, die Anamnese
einmal im Jahr komplett neu zu erstellen und an die Pflegeplanung
anzupassen. Die Pflegekräfte klagen über den immensen Arbeitsaufwand.
Und das zurecht. Der Anamnese-Bogen umfasst mehrere DIN-A4-Seiten. Das
Ausfüllen dauert Stunden. Es geht aber noch extremer:
Ein
Pflegedienst aus Niedersachsen hält die Mitarbeiter dazu an, bei jeder
Überarbeitung der Pflegeplanung auch die Anamnese zu aktualisieren. Da
dieses in der normalen Arbeitszeit nicht zu schaffen ist, ist
"Heimarbeit" eher die Regel als die Ausnahme.
Spätestens an diesem Punkt muss eine Pflegedienstleitung einschreiten
und den Wildwuchs stoppen. Der aktuelle Zustand wird in der
Pflegeplanung und im Pflegebericht dokumentiert. Wenn diese Dokumente
sorgfältig und kompetent geführt werden, kann jeder Beteiligte auf
einen Blick den Pflegestatus des Senioren erfassen. Alles andere ist
Doppeldokumentation.
Für Klarheit sorgt letztlich das Bundesministerium für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend. In der Broschüre "Pflegedokumentation
stationär" wird ausdrücklich davon abgeraten, die Pflegeanamnese
ständig anzupassen.
"Die Pflegeanamnese wird in dem von der Einrichtung
festgelegten Zeitraum durch die zuständige Pflegefachkraft fertig
gestellt, datiert und unterschrieben. Ergänzungen werden danach nicht
mehr vorgenommen." (Pflegedokumentation stationär, Das Handbuch für die
Pflegeleitung, Seite 10)
Es gibt also nur wenige Anlässe, um eine Anamnese zu überarbeiten oder
gar komplett neu zu erstellen. Dieses wäre z. B. denkbar, wenn ein
Bewohner schwer stürzt und nach langem Krankenhausaufenthalt samt
anschließender Reha in die Einrichtung zurückkehrt. Der körperliche und
ggf. auch der mentale Zustand haben sich grundlegend geändert, es gibt
viele neue Gesundheitsprobleme. Aus pflegerischer Sicht ist es Zeit für
einen "Neustart" und somit auch für eine neue Pflegeanamnese.
|